J. Malíř u.a.: Abgeordnetenlexikon des Mährischen Landtags

Cover
Titel
Biografický slovník poslanců moravského zemského sněmu v letech [Biographisches Lexikon der Abgeordneten des Mährischen Landtages] 1861–1918.


Autor(en)
Malíř, Jiří; Bělí, Petr; Dvořák, Jan; Fasora, Lukáš; Malá, Markéta; Markel, Martin; Rája Martin; Stoklásková, Zdeňka
Reihe
Historie 392
Anzahl Seiten
Preis
Kč 898,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Höbelt, Universität Wien

Es ist in der Regel nicht leicht, Nachschlagewerke zu rezensieren. Der Vergleich mit den Parodien auf Reich-Ranickis Besprechung des Berliner Telefonbuches liegt nahe. In diesem Fall hingegen ist es schwer, nicht in geradezu hymnische Lobpreisungen zu verfallen, wie sie sonst nur Thriller oder Lyrik gewidmet werden. Denn ein Kompendium wie das „Biographische Lexikon der Abgeordneten des mährischen Landtags in den Jahren 1861–1918“ sucht seinesgleichen, und das nicht bloß in Mitteleuropa. Der mährische Landtag hatte einhundert Sitze, ab dem „Mährischen Ausgleich“ von 1905 dann ergänzt durch weitere zwanzig Mitglieder einer allgemeinen Wählerkurie. Auf über 750 Seiten haben sich acht Autoren die Mühe gemacht, etwas über 600 Abgeordnete zu behandeln; das ergibt im Durchschnitt mehr als eine Seite pro Eintrag, und somit eine Dichte an Informationen, die über einschlägige Nachschlagewerke weit hinausgeht.

Die Biographien umfassen selbstverständlich die Tätigkeit der Betreffenden im Landtag, zumeist auch die Wahlergebnisse. Die Parteistellung des jeweiligen Mandatars wird für den Großteil der behandelten Epoche durch eine Charakteristik der Stellung innerhalb der Tschechischnationalen oder der Deutschliberalen ergänzt, die erst in den 1890er-Jahren formell in verschiedene Parteien zerfielen, aber bereits vorher verschiedene Unterströmungen erkennen ließen. Diese Basisdaten werden durch eine Fülle von Zusatzinformationen ergänzt, die mithelfen, ein plastisches Bild der politischen Elite des Kronlandes ergeben. So spielten oft die Herkunft von Familien und die Genealogie eine gewisse Rolle, vor allem in der Kurie des landtäflichen Großgrundbesitzes, die immerhin dreißig Abgeordnete stellte, aber bei weitem nicht nur dort. Verwandtschaftliche Beziehungen verbanden auch viele der bürgerlichen Honoratioren. Dazu kam bei der „Advokatenclique“ (wie missgünstige Aristokraten die Führungsmannschaft der tschechischen Nationalpartei gerne bezeichneten) ein ausgedehntes Netz von Filial- und Klientelbeziehungen beispielsweise über die Konzipiententätigkeit in den Kanzleien von Parteigenossen.

Das wirtschaftliche Umfeld der Abgeordneten des Mährischen Landtages wird zum Teil durch die Auswertung von Steuerakten präzise dokumentiert; der politische Kontext durch Mitgliedschaften und Tätigkeiten in Vereinen. Allein schon die stichprobenartige Lektüre fördert interessante Besonderheiten zutage, wie zum Beispiel die Rolle von Ungarisch-Hradisch in der Sozialisation einer disproportionalen Anzahl tschechischer Mandatare. Es lässt sich, um einen möglichen Verdacht gleich von vornherein auszuräumen, keineswegs von einer bevorzugten Darstellung der tschechischen politischen Szenerie sprechen – die deutschen Abgeordneten werden im hier anzuzeigenden Nachschlagewerk ebenso eingehend und fachkundig gewürdigt; auch in diesen Fällen wird ihr Nachkriegsschicksal weiter verfolgt. Allenfalls könnten die Tücken des tschechischen Alphabets (ch nach h) den uneingeweihten Benützer auf den ersten Blick verwirren…

Es versteht sich von selbst, dass nicht über alle Abgeordneten die Quellen gleich ergiebig sprudeln. Umso lobenswerter ist es, dass man sich nicht im Sinne einer strengen Systematik dazu entschlossen hat, Informationen zurückzuhalten, weil sie vielleicht nur für eine Minderheit zur Verfügung stehen, wodurch dem Benützer ein Maximum an Informationen geboten wird. In fast allen Fällen zählt dazu auch eine Photographie. Alles in allem liegt eine stupende Forschungsleistung der insgesamt acht Bearbeiter vor. Petr Bělí, Jan Dvořák, Lukáš Fasora, Markéta Malá, Martin Markel, Martin Rája und Zdeňka Stoklásková sind im Kreis um Jiří Malíř an der Masaryk-Universität in Brno (Brünn) tätig. Malíř als führende Kapazität im Feld der Parteienforschung hat auch den einleitenden Beitrag (S. 11–46) über den Landtag verfasst, ergänzt von Tabellen über die Sessionen und die Zusammensetzung des Landtages, sowohl nach Kurien als auch nach Fraktionen (inklusive eines „Stammbaumes“ der Parteien).

Das Handbuch als einen herausragenden Beitrag zu bezeichnen, muss freilich immer noch als Understatement gelten, weil es vergleichbare Handbücher für andere Kronländer der Habsburgermonarchie bzw. „Cisleithaniens“ mit der Ausnahme des 161 Biogramme umfassenden Lexikons des Abgeordneten des Schlesischen Landtags in Opava (Troppau)1 nicht gibt. Allenfalls liegt für Oberösterreich mit der Monographie des in Böhmen gebürtigen Harry Slapnicka über „die politische Führungsschicht des Landes in den Jahren 1861–1918“ zumindest ansatzweise ein ähnlicher Band vor, der allerdings nicht in vergleichbarer Weise in die Tiefe geht.2 Richard Voithofers biographisches Handbuch der politischen Eliten im Land Salzburg3 hingegen bietet nur stichwortartig eine Rekapitulation der öffentlichen Laufbahn der Landboten. Ein gänzlich unbescheidenes Desiderat wäre die Erstellung eines Kompendiums nach dem mährischen Muster auch für Böhmen, wo freilich die größere Zahl von Sitzen – 240 statt 100! – die Aufgabe zu einer noch viel schwierigeren macht.

Anmerkungen:
1 Hana Šústková, Biografický slovník poslanců zemského sněmu v Opavě 1861–1918 (=Biografický slovník Slezska a severní Moravy, nová řada, sešit 8 [Biographisches Lexikon Schlesiens und Nordmährens, Neue Reihe, Heft 8], Supplementum, Ostrava 2006.
2 Harry Slapnicka, Oberösterreich. Die politische Führungsschicht 1861–1918 (= Beiträge zur Zeitgeschichte Oberösterreichs 9), Linz 1983.
3 Richard Voithofer, „dem Kaiser Treue und Gehorsam“. Ein biografisches Handbuch der politischen Eliten in Salzburg 1861 bis 1918, Wien 2011.

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